Wissensräume unserer Gesellschaft #3 Stätten kultureller Bildung

Kultureinrichtungen aller Art – seien es Museen, Galerien, Theater oder auch Baukulturzentren – haben stets einen Bildungsauftrag. Von jeher sind sie Orte der Bildung und Vermittlung, in denen kulturelles Wissen in der Gesellschaft weitergegeben wird. Ihrer Bedeutung als allen zugängliche, öffentliche Räume werden sie allerdings nicht immer vollumfänglich gerecht. Im Rahmen des dritten Events der Baukultur-Dialogräume wurde nun kritisch hinterfragt, wie sich diese außerschulischen Lernorte und Wissensräume heute entfalten können und inwieweit sich diese mit der Umsetzung ihres Bildungsauftrags aufgrund neuer Erkenntnisse und Einsichten an neue Bedürfnisse und Notwendigkeiten anpassen müssen. Welchen Nutzen können sie als Orte der Kommunikation und Begegnung für die Gesellschaft stiften? Und welche Rolle spielt dabei die Baukultur? Die Diskussion fand in der Ausstellung Bildungsschock. Lernen, Politik und Architektur in den 1960er und 1970er Jahren im Berliner Haus der Kulturen der Welt statt.

Teilnehmende
Vor dem thematischen Einstig in die Diskussion wurden wieder die Teilnehmenden willkommen geheißen und kurz vorgestellt. Mit dabei waren Tom Holert, Kunsthistoriker, Publizist, Künstler und Kurator u.a. des Forschungs- und Ausstellungsprojekts Bildungsschock. Lernen, Politik und Architektur in den 1960er und 1970er Jahren. Er war Redakteur der Kunstzeitschrift Texte zur Kunst sowie Redakteur und Mitherausgeber der Musik-und Popkulturzeitschrift Spex. Ebenso ist er der Autor und Herausgeber zahlreicher Bücher, darunter Knowledge Politics. Contemporary Art's Epistemic Politics (2020) und die ausstellungsbegleitende Publikation. Sónia Vaz Borges, selbstbezeichnete militant interdisziplinäre Historikerin, arbeitet aktuell als Forscherin an der Humboldt Universität an der Sozial- und Bildungswissenschaftlichen Fakultät und ist Autorin beim Projekt Bildung für Alle. Zu ihren vielseitigen Forschungsinteressen zählen unter anderem Formen radikaler Bildung sowie Architektur und pädagogische Räume. Jüngst erschienen ist ihr Buch Militant Education, Liberation Struggle, Consciousness (The PAIGC Education in Guinea Bissau 1963–1978). Reiner Nagel ist Architekt und Stadtplaner und seit 2013 Vorstandsvorsitzender der Bundesstiftung Baukultur. Zuvor war er Abteilungsleiter in der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung Berlin für die Bereiche Stadtentwicklung, Stadt- und Freiraumplanung. Er ist Lehrbeauftragter an der TU Berlin im Bereich Urban Design und Mitglied der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung und außerordentliches Mitglied des Bundes Deutscher Architekten (BDA). Mehr noch ist er der Initiator dieser Dialogreihe. Die Kuratorin Ellen Blumenstein studierte Literatur-, Musik- und Medienwissenschaften. In Berlin gründete sie den Salon Populaire und war ehemals Chefkuratorin des KW Institute for Contemporary Art. Seit 2017 zeichnet sie aber als Kuratorin von IMAGINE THE CITY für die künstlerische Begleitung der Stadtentwicklung in Hamburgs HafenCity verantwortlich. Alexander Schwarz ist gelernter Geigenbauer und Architekt. Er ist seit über 25 Jahren bei David Chipperfield Architects und dort auch seit 10 Jahren Partner im Berliner Büro. Als Design Director ist er dort für die Gestaltung zahlreicher Projekte verantwortlich, darunter das Neue Museum und die James Simon Galerie auf der Berliner Museumsinsel, das Literaturmuseum der Moderne in Marbach und das Museum Folkwang in Essen. Darüber hinaus ist er Professor am Institut für öffentliche Bauten und Entwerfen der Universität Stuttgart.

Prägende Kulturstätten
Erneut wurde zu Beginn die allen gemeinsame Auseinandersetzung mit Formen und Formaten der Diskussion, Vermittlung und Produktion von Kultur betont. Dabei erwähnte Feireiss einen Podcast, in dem der Über-Kurator Hans-Ulrich Obrist über seinen ersten Besuch der Klosterbibliothek in St. Gallen und dann später des Kunsthaus Zürichs mit seinen Eltern im Alter von ca. 10 Jahren sprach und den Einfluss dieser beiden Orte auf seinen späteren beruflichen Werdegang. Davon inspiriert wurde mit den Teilnehmenden über Kultureinrichtungen gesprochen, die für sie persönlich im positiven wie negativen Sinne prägend waren.

Raumlehren
In seinem Vorwort zur ausstellungsbegleitenden Publikation reflektiert Bernd Scherer, Intendant des HKW, über den Einfluss des spatial turn – also der raumkritischen Wende in den Kultur-und Sozialwissenschaften – für die Bildungsprozesse. Vor dem Hintergrund des Erfahrungshorizonts der Teilnehmenden wurde aus inhaltlicher wie kuratorischer und gestalterischer Sicht über die räumliche Dimension kultureller Institutionen gesprochen, die ebenfalls einen Bildungsauftrag haben. Insbesondere am Beispiel von konkreten Formaten für die die Teilnehmenden mitverantwortlich zeichnen – sei es nun ein Ausstellungsbeitrag, eine Ausstellung oder aber auch die Gestaltung und Konstruktion eines Ausstellungsraums oder eines ganze Gebäudes – wurde auf die räumliche Komponente dieser kulturellen Bildungsorte eingegangen. Als Architekt und Partner bei David Chipperfield Architects ist Schwarz beispielsweise verantwortlich für zahlreiche Projekte im Museums- und Kulturbau u.a. für das Neue Museum und die James Simon Galerie auf der Berliner Museumsinsel. Er sprach über konkrete, architektonische Aspekte und Leitmotive, die die Förderung von Wissensaneignung unterstützen, und die es beim Entwurf von solchen Kulturbauten besonders zu beachten gilt. Das von Blumenstein kuratierte Projekt IMAGINE THE CITY begleitet Europas größtes innerstädtisches Stadtentwicklungsprojekt durch langfristige Eingriffe in den urbanen Raum, um im Stadtteil kulturelle Anliegen einer diversen Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Hier sprach sie über die wichtigsten Lektionen, die sie im Verlauf der letzten vier Jahren in Hamburg hinsichtlich des Verhältnisses von Raum, Ort, Bildung, Kultur und Wissen gelernt hat. Holert reflektierte über Orte und wie diese als Sinneinheiten in unserem Welterleben und -erkennen eine fundamentale Rolle spielen und zur Entwicklung von relevanten Denk- und Handlungsräumen beitragen. Mit der von ihm kuratierten Ausstellung und den darin vertretenen Ansätzen zeigt er, wie Räume des Lernens unter dem Druck demografischer und technologischer Entwicklungen permanent neu gedacht und geplant wurden. Diese Fragestellung fortführend und Denkansätze des im Vorwort des Ausstellungskatalogs zitierten bedeutenden Poeten, Philosophen, Romanciers und Essayisten der französischsprachigen Karibik Édouard Glissant aufgreifend, sprach Vaz Borges über Örtlichkeit als auch Mobilität als zentrale Parameter der Erfahrung vor dem Hintergrund ihres Schreibens über Befreiungskämpfe und soziale Bewegungen auf der ganzen Welt in Bezug auf die Bereiche Bildung und Erinnerung, Raum und Architektur, durch die Praxis antikolonialer und dekolonialer Forschung. Mit Nagel wurde über den explizit öffentlichen Charakter der Architektur als Kerndisziplin der Baukultur gesprochen. Im Gegensatz zu anderen ästhetischen Disziplinen, auf die man sich einlassen kann, aber nicht muss, können wir uns der Präsenz der Architektur kaum entziehen. Vor dem Hintergrund der Beschäftigung mit dem räumlichen Einfluss auf unser Denken und Handeln, sann Nagel über die Rolle lokaler Baukulturzentren und Schwierigkeiten bei der Vermittlung von Baukultur nach.

Virtuelle Kultur
Des Weiteren wurde die Digitalisierung von Kulturstätten und Programmen angesprochen. Dies geschah vor dem scheinbaren Paradoxon, dass seit mehr als zwei Jahrzehnten überall auf der Welt Museumsbauten wie Pilze aus dem Boden schießen, sehr oft noch geprägt von dem Wunsch nach einem Signature Building eines namentlich genannten  – meist männlichen – Architekten in der Hoffnung auf einen lokalen Bilbao-Effekt. Auf der anderen Seite wird ein enormer Aufbruch in die Virtualität, die Entmaterialisierung des Objekts und seiner physischen Erfahrung zugunsten seines globalen Zugangs festgestellt. Gerade im vergangenen Jahr im Rahmen der Covid-19-Krise mussten selbst die Wenigen, die dieser Entwicklung noch zögerlich gegenüberstanden, sehr schnell lernen und mitziehen.

Dritter Ort
Kultureinrichtungen stehen im Dienste der Gesellschaft und erbringen Leistungen für die Gesellschaft und ihre Entwicklung. Es geht dabei heute oft auch um die Entwicklung zu lebendigen Erlebnisräumen mit hoher Aufenthaltsqualität und vielfältigen Möglichkeiten, sich auszutauschen und weiterzubilden. Von zentraler Bedeutung für diesen Wandlungsprozess ist das Konzept des 'Dritten Ortes', welches bereits im ersten Gespräch über Bibliotheken diskutiert wurde: der Dritte Ort als sozialer Ort der Begegnung neben dem Zuhause ('Erster Ort') und dem Arbeitsplatz ('Zweiter Ort'). Ein Dritter Ort zeichnet sich unter anderem durch Neutralität, Inklusivität, Zugänglichkeit und Niederschwelligkeit aus. Jedoch stellen für viele die oftmals hohen Eintrittspreise für Kulturinstitutionen eine unüberwindbare Schwelle dar, die diese Stätten kultureller Bildung zu Orten eines exklusiven Publikums machen. Vaz Borges beschäftigt sich als Historikerin mit Fragen nach der Wirkmacht und Wirksamkeit von Bildung und Erziehung in gesellschaftspolitischen und sozialen Kontexten. Erörtert wurde mit ihr, inwiefern Kulturstätten wie Museen noch starker und gezielter als außerschulische Lernorte in Zusammenarbeit mit anderen Kultur- und Bildungseinrichtungen (Kitas, Schulen, Universitäten, Archive, Bibliotheken) genutzt werden können. Der Fokus Blumensteins kuratorischer Arbeit liegt seit jeher auf der Ansprache neuer Besuchergruppen. Vermittlung ist integraler Bestandteil ihrer kuratorischen Praxis. In diesem Kontext erläuterte sie ihren Ansatz, Orte der Produktion, Zusammenarbeit und Begegnung mit und durch die bildende Kunst zu schaffen. Holert lehrte und forschte viele Jahre lang an der Akademie der bildenden Künste Wien zu Kunst als Wissensproduktion. Bereits seine Dissertation widmete sich unter dem Titel Künstlerwissen Fragen nach Wissensprozessen und Wissenspolitiken in der bildenden Kunst. Auch Schwarz überlegte, inwiefern ein architektonisch gelungener Kulturbau zu einer (bau)kulturellen Sensibilisierung innerhalb unserer Gesellschaft beitragen könnte, und Nagel betonte, wie Kultureinrichtungen räumlich gebundener Wissensvermittlung zur öffentlichen Zugänglichkeit und Produktion von Wissen beitragen können.

Ausblick
Abschließend wurde mit den Teilnehmenden über nicht-institutionelle und informelle Situationen und Räume des Lernens und der Kulturvermittlung gesprochen. So überlegte Schwarz, inwieweit Architekt:innen in ihrem Entwurfs- und Realisierungsprozess für Kultureinrichtungen auch solche informellen, weichen, transformativen und sich ständig transformierenden Faktoren berücksichtigen müssten. Holert sinnierte darüber, dass in Berlin Clubs und Live-Musiklocations seit Ende 2020 als politisch anerkannte Kulturstätten gelten und somit Theatern und Opernhäusern gleichgestellt sind, und  nicht mehr wie zuvor Vergnügungsstätten wie Spielhallen und Bordellen. Clubbing ist in Zukunft in Berlin also offiziell eine kulturelle Tätigkeit. Mit Blumenstein wurde diskutiert, inwiefern öffentlicher Raum als musealer Raum denkbar wäre. Der Schweizer Künstler Thomas Hirschhorn – bekannt für seine provokativen Installationen an öffentlichen Orten in verschiedenen Städten weltweit – spricht sich in seinem Manifest zum Museum der Zukunft für die Herstellung oder Wiederherstellung von öffentlichem Raum oder Momenten des öffentlichen Raumes in der öffentlichen Institution aus. Nagel referierte den aktuellen Baukulturbericht 2020/21 Öffentliche Räume, der sich  schwerpunktmäßig ebenfalls mit der Bedeutung und den Potenzialen dieser Räume befasst. Vaz Borges hinterfragte kritisch, wie neue Räume der Kulturvermittlung aussehen können, die sich über existierende, dominante Raum- und Denkformate hinwegsetzen und welche Vorgänger aus der Vergangenheit hier exemplarisch anzuführen wären.

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